Franz Kafka: Vor dem Gesetz (Die Türhüter-Parabel) Warte nicht auf Einlass, verschaffe ihn dir!

 

Franz Kafka: Vor dem Gesetz (Die Türhüter-Parabel) – Warte nicht auf Einlass, verschaffe ihn dir!

Achte frühzeitig darauf, durch die für dich bestimmte Tür zu gehen, damit nicht am Ende deines Lebens sich deine Tür für immer schließt. Das ist wohl eine der kurzgesfassten und einfachen Deutungshypothesen von Franz Kafkas Text „Vor dem Gesetz“. Die tiefe Wahrheit erschließt sich allerdings bei genauerer Betrachtung immer mehr.

 

„Vor dem Gesetz steht ein Türhüter“. So lautet der erste Satz der Parabel. Was dieses Gesetz ist, wird in Kafkas Text nicht näher erläutert und wer Franz Kafkas Texte kennt, erwartet dies auch nicht. Der Autor konfrontiert uns mit einem Rätsel, das wir gewillt sind zu lösen, um aus der Aussage der Parabel etwas zu lernen. Das ist schließlich der Reiz der Parabel, dieses Aha-Erlabnis am Ende des Textes, vielleicht auch eine Pointe, die uns weiterhilft, die uns den Weg weist, die uns zur Erkenntnis führt. „Ja, jetzt habe ich es verstanden,“ möchte man beim Lesen am Ende des Textes sagen. Aber diese Befriedigung gibt uns Franz Kafka am Ende seiner Texte nicht. Er verstört uns durch seine unerwarteten Schlussvarianten und oft ist man geneigt zu denken, dass er einen vielleicht nur ärgern will und etwas Einfaches künstlich verschlüsselt, um uns eine Denkaufgabe zu geben, die wir letztendlich nicht lösen können.

 

Doch wer sich die Mühe macht, genauer hinzusehen, der wird belohnt und beginnt eine Reise durch eine Welt des neuen Denkens. Kafka macht es uns nicht leicht, aber er schenkt uns auch etwas. Kafka macht uns auch nicht depressiv und mutlos, wie es im ersten Augenblick scheinen könnte, sondern er macht uns frei vom Kampf gegen die Wahrheiten des Lebens, die da sind, ob wir sie hinnehmen wollen oder nicht. Wer sich auf die Texte von Franz Kafka einlässt, wird im Paradoxen und Unausweichlichen einen Trost finden, weil er aufhören kann, das unerkennbare Gesetz des Lebens in eine Ordnung zu bringen, die nicht existiert.

 

„Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz.“ So lautet der zweite Satz des Textes. Im Laufe dieses Textes werden wir Zeugen von einer Machtdemonstration des Türhüters, die den Mann in seinem Vorhaben ängstlich und müde werden lässt. Zuerst versucht er Mann vom Land noch Widerstand zu leisten, doch der Hinweis des Türhüters, dass er nur die erste Instanz einer immer mächtiger werdenden Kette von weiteren Machtinstanzen sei („Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“), das imposante Aussehen des Türhüters und gleichzeitig dessen Hilfsbereitschaft („Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen.“) machen den Mann ängstlich und müde. Immer wieder macht er kleine Versuche, den Türhüter durch Bitten um Einlass und durch Geschenke all seines Hab und Guts, das er mitgebracht hat, dazu zu bringen, ihm den Einlass zu erlauben. Der Türhüter spricht auch mit ihm und stellt „teilnahmslose Fragen“, er nimmt auch die Geschenke an, jedoch nur, um ihn von seinem wahren Ziel abzulenken. („Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“)

 

Der Mann vom Land konzentriert sich nur mehr auf das Beobachten des Türhüters, der ihm „das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz“ erscheint. Schließlich wird er alt und weiß, dass er nicht mehr lange leben wird. Durch das Nachlassen seiner Augen scheint es um ihn dunkler zu werden, doch „er erkennt jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht.“ Eine letzte Frage verdichtet sich in ihm aus den Erfahrungen seines Lebens. Mit letzter Kraft formuliert er die Frage an den Türhüter, der ihm nochmals eine Machtdemonstration („du bist unersättlich“) spüren lässt. „Alle streben doch nach dem Gesetz“, sagt der Mann, „wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“

 

„Hier konnte sonst niemand Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“, ist die Antwort des Türhüters.

 

Diese Antwort lässt in ihrer Endgültigkeit und Härte keinen Funken des Trostes oder der Entschuldigung. Der Text ist eine Parabel auf das Demonstrieren von Macht und Einschüchterung des Menschen. Das ganze Leben hat der Mann damit verbracht, über eine mächtige Instanz Zugang zu der für ihn bestimmten Tür zu bekommen und das für ihn geltende Gesetz zu finden. Aber er hatte nicht den Mut und die Konsequenz der Instanz der Macht keinen Glauben zu schenken und über die Drohungen hinweg zu gehen. Er hat versucht mit Bitten und Geschenken eine Erlaubnis zu bekommen, das für ihn bereitstehende Gesetz zu sehen. Er hat sich auf die Macht-Instanz konzentriert und das wahre Ziel aus den Augen verloren.

 

Im Augenblick seines Todes muss der Mann erkennen, was ihn am Leben vorbei gehen hat lassen, nämlich sich nicht das genommen zu haben, was ihm zusteht, sein für ihn bestimmtes Leben.

 

Diese Erkenntnis, die uns Franz Kafka in dieser Parabel vor Augen führt, lässt einen Erschauern ob der Tragweite der Möglichkeit jeder menschlichen Existenz, im Angesicht des Todes zu erkennen, nicht mutig und zielgerichtet genug gewesen zu sein, den eignen Weg zu verfolgen und schlussendlich sein einmaliges Leben verschenkt zu haben mit der sinnlosen Beschäftigung mit den von anderen gesetzten Grenzen, die eigentlich gar nicht existiert haben.